Über die Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen

Obwohl die „Neue Arbeit“ ein alternatives Arbeitssystem mit unterschiedlichen neuen Arbeitsformen ist, hat keine so viel Aufmerksamkeit, Nachfrage bzw. Interesse geweckt wie die „Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen“. Sie ist regelrecht zu ihrem Markenzeichen geworden. „Der am meisten mit der Neuen Arbeit assoziierte Ausdruck ist ja die wiederholte, immer wiederkehrende Frage nach der Arbeit, die jemand wirklich wirklich tun will.“ (Frithjof Bergmann, Neue Arbeit, Neue Kultur, Arbor Verlag, Freiamt, 2004). Umso wichtiger ist es darzustellen, was Frithjof Bergmann unter dieser bestimmten Arbeit versteht, denn sonst kann und wird sie leicht missverstanden. Denn wie hat Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“, über den Bergmann promovierte, bereits angemerkt: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“
Dieser Artikel hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, die „Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen“ vorzustellen. Er ist wie folgt gegliedert:
In Teil I werden Voraussetzungen bzw. grundsätzliche Überlegungen Bergmanns dargestellt, die für die „Neue Arbeit“ konstitutiv sind und ohne diese die „Arbeit, die wirklich, wirklich wollen“ nicht umfassend verstanden werden kann.

In Teil II wird beschrieben, was das eigentlich ist: „Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen“

In Teil III wird erläutert, was es braucht, Menschen darin zu unterstützen, zu dieser Arbeit zu kommen.

I Voraussetzungen und grundsätzliche Überlegungen

1. Das Jobsystem kennzeichnet sich durch eine Vielzahl von Mängeln:

• Automatisierung, Digitalisierung und Rationalisierung der Arbeit führen dazu, dass immer mehr Jobs verschwinden. Technik ersetzt zunehmend menschliche Arbeitskraft. Gleichzeitig bringen weltweit Bevölkerungswachstum und Landflucht tagtäglich unzählige Arbeitskräfte hervor, so dass der Bedarf an Jobs wächst. Der Mangel an Jobs wird so immer größer. Folglich braucht es eine Alternative zum Job, um allen Menschen Arbeit zu ermöglichen.
• Die Zunahme globaler Beschäftigungslosigkeit (als Kehrseite von Automatisierung, Digitalisierung, Bevölkerungswachstum und Landflucht) ist aber nur einer unter vielen Missständen im Jobsystem. Desweiteren gehören unter anderem dazu: Leistungsdruck, Erfolgsdruck, Mehrarbeit, Monotonie, Stress, Überforderung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse usw. Mängel, die nicht mehr verschwinden, sondern zunehmen und darüber hinaus werden neue hinzukommen. Mängel, die dem Menschen in jeglicher Hinsicht schwer zu schaffen machen.
• Die Finanzkrise vor zehn Jahren und aktuell noch deutlicher die Corona-Krise zeigen auf´s Deutlichste, wie verwundbar der Arbeitsmarkt ist, wie leicht er von externen Faktoren beeinflusst wird und wie schnell wir unsere Jobs verlieren.
Warum lassen wir uns eine stetige Verschlechterung der Arbeitsbedingungen gefallen? Warum sind wir bereit, diese Missstände dauerhaft aushalten und unter ihnen zu leiden? Einerseits, weil wir dermaßen vom Job abhängig sind: ohne Job kein Einkommen, Verlust an Lebensstandard und Verringerung der materiellen Absicherung, Bergmann vergleicht diese Abhängigkeit mit der des Indianders vom Büffel: der Büffel war für ihn Lebensgrundlage schlechthin: das Fleisch zum Essen, die Haut zum Zeltbau, die Knochen zum Bau von Waffen usw. Ohne Büffel geht der Indianer unter und ist untergegangen – und so ergeht es uns mit den Jobs. Andererseits, weil es angeblich an einer Alternative zum Job-System fehlt. Das sind die maßgeblichen Gründe, dass wir zu jedem faulen Kompromiss bereit sind und jede Zumutung hinnehmen.

Das Jobsystem - Thomas Schneider 2001, Praterstern Wien 2. Bezirk CC BY-NC 3.0

Gab es in den letzten Tagen etwas, das mir eine unerwartete „Freude“ (a „pleasure“) gegeben hat?
Wenn es so etwas gab, dann lohnt es sich, darüber nachzudenken. Daraus lässt sich ableiten, was es genau ist, was dir Freude macht. Und daraus wiederum kann man schließen, was du tun kannst, um diese Freude regelmäßig zu spüren. Das Ganze kann sehr lange dauern – und nicht nur das: was wir wirklich, wirklich wollen ändert sich häufig. Deshalb haben die Berater in den Zentren für Neue Arbeit in der Regel eine langfristige Verbindung zu ihren Klienten.
Wie geht das? Wie findet man raus was man wirklich wirklich will?
Manchmal ist es ein Film, manchmal ein Gespräch, jeder hat da wahrscheinlich seine eigenen Erlebnisse, jedenfalls hilft es schon, wenn man Anleitung, Hilfestellung dabei hat.

Frithjof Bergmann zum Calling

Mark Linsenmayer und Frithjof Bergmann diskutieren am 7. Januar 2014 in den USA einen wichtigen Bestandteil der Neuen Arbeit: Berufungen, d.h. das “Calling” selbst, das die Menschen anregt und dem Leben einen Sinn gibt. Die Überwindung der “Armut der Begierde”, die Berufsberatung, die Professionalisierung der Leidenschaft, warum “realistisch sein und einen Job bekommen” die falsche Botschaft für junge Menschen ist.

Polarität der Arbeit

2. Bergmann spricht von der sogenannten „Polarität der Arbeit“ (Frithjof Bergmann: „Neue Arbeit, Neue Kultur“ Arbor Verlag, Freiamt, 2004, Seite 13 – 21). Diese meint eine grundsätzliche Bandbreite an Arbeit, an deren einem Ende „schlechte“ Arbeit und am anderen Ende „gute“ Arbeit angesiedelt ist. Der Job gehört zur „schlechten“ Arbeit, aus den zuvor genannten Gründen. Der Job hält nicht, was er verspricht. Er verspricht zum Beispiel wirtschaftliche Unabhängigkeit; aber er macht uns in Wirklichkeit zutiefst abhängig vom Arbeitsmarkt. Jobs sind die Fleischtröge unserer Zeit. Sie bieten für gewöhnlich Geld und Sicherheit, aber zugleich versklaven sie uns und fesseln uns an die Notwendigkeit. Die Neue Arbeit will daraus befreien – sie ist der Aufruf zum „Auszug aus Ägypten“.

„Gute“ Arbeit hingegen ist Arbeit, mit der wir uns identifizieren, die für uns sinnvoll ist, die uns stolz macht, die eine wirkliche Aufgabe darstellt, die uns Kraft und Energie spendet, die uns über uns hinauswachsen lässt, zu der wir uns berufen fühlen. Während wir beim Job Mittel sind und uns zum Mittel machen, sind wir hier Zweck der Arbeit.

3. Frithjof Bergmann gehört jener philosophischen Richtung an, die davon ausgeht, dass der Mensch von Natur aus ein Mangelwesen ist. Demnach sind Menschen eher schwach, unzulänglich, leicht zu entmutigen, schnell eingeschüchtert und sogar bereit sich aufzugeben.

Der Mensch ist das (einzige) Wesen, das sich verlieren kann. Aus diesem Grund ist sein Wunsch, etwas Bestimmtes zu wollen, oftmals nicht ausgeprägt, wenn er denn überhaupt vorhanden ist. Diesen Zustand nennt Bergmann in Anlehnung an Hegel „Armut der Begierde“ (ebd. S. 134-141 sowie S. 328 und S. 348). Er bringt in seinen Texten Beispiel um Beispiel, um diese grundsätzliche menschliche Verfassung zu demonstrieren – seien es Arbeiter in der Automobilproduktion in Flint/Michigan/USA, Straßenkinder in Vancouver, Indianer im Reservat, Manager im Unternehmen, Rentner oder Studierende an der Uni.

An dieser Stelle noch ein anderer Hinweis, um dieses Menschenbild zu unterstreichen: wären Menschen von Kindauf stark, strotzten sie vor Zielstrebigkeit, Entschlossenheit und Selbstsicherheit, so dass sie nichts aus der Bahn werfen kann, wäre Orientierungslosigkeit ein Fremdwort für sie, warum sind dann die Wartezimmer der Psychotherapeuten voll, warum häufen sich Coaching- und Beratungsangebote für alle Lebenslagen?

Damit kein Missverständnis entsteht: mit der „Armut der Begierde“ ist ein spezifischer Mangel an Wünschen oder „Wollen“ gemeint. Nämlich dem Streben nach sich selbst. Dieses „Sich-selbst-wollen“ ist vielen Menschen abhanden gekommen oder haben sie erst gar nicht ausgeprägt. Stattdessen macht sich unter den einen Apathie, Langeweile, Gleichgültigkeit, Verzweiflung bzw. Zynismus breit. Und bei den anderen ist der Wille auf Äußeres ausgerichtet: auf Geld, auf Karriere, auf Urlaub, auf Macht, auf Sicherheit usw. Also Sorge für dieses und jenes, aber keine Sorge um sich selbst. Viele Kräfte haben es darauf angelegt, den Menschen von sich selbst abzuziehen, abzulenken und zu zerstreuen: Werbung, Konsum, Urlaub, Entertainment, Medien. In dieser Aufzählung darf der Job nicht fehlen. Jobarbeit ist Arbeit für andere: für Geld, für den Arbeitgeber, für den Arbeitsmarkt, für die Karriere, für materiellen Wohlstand. Jobarbeit ist Arbeit für alles möglich, nur nicht für sich selbst.

II Was heißt das: „Tue, was Du wirklich, wirklich willst“?

In Bezug auf das bisher Gesagte bedeutet diese neue Arbeitsform:
• sie ist eine Alternative zum Job
• sie will die „Armut der Begierde“ überwinden
• sie ist „freie Arbeit“ im Gegensatz zu „notwendiger Arbeit“
• sie bedeutet folglich einen Zuwachs an „Freiheit“
• sie führt dazu, dass wir uns mehr selbst erkennen – sie bringt also Licht in die Selbstunkenntnis
• sie bedingt, dass der Mensch „lebendiger“, „kräftiger“ wird „zu sich selbst kommt“ und mehr seinen Möglichkeiten gerecht wird.

Darüber hinaus bedeutet sie, erläutert anhand der einzelnen Worte des Satzes:

WAS

Was ist die Idee, die Bestimmung, die Möglichkeit, die in uns angelegt ist? Nicht irgendetwas, nichts Oberflächliches, nichts Modisches, nichts Korrumpierbares, nichts mir Fremdes. Sondern, das was tief in uns steckt, was uns selbst ausmacht, was wir ganz aus uns selbst heraus wollen, etwas, was wir unbedingt, absolut, ernsthaft und mit Leidenschaft sein wollen.

TUN

Es reicht nicht aus, zu wissen, was wir tun wollen – wir müssen die Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen, auch tun. Das Tun vermittelt zwischen Idee und Wirklichkeit. Erst, wenn wir die Arbeit tun, wissen wir, ob es die richtige ist; und erst, wenn es die richtige ist, wirkt sie sich entsprechend positiv auf uns, d.h. dass sie uns „stärkt“ und „kräftigt“; uns „lebendiger“ macht und uns „Energie gibt“ usw.

WIRKLICH WIRKLICH WOLLEN

Entsprechend der früheren Aussage, dass es uns schwer fällt uns zu erkennen, dass wir uns häufig verkennen, liegt es auf der Hand, dass es nicht einfach ist, herauszufinden, was wir „wirklich, wirklich wollen“. Unser Wille kann sich irren, kann uns täuschen, er kann was wollen, was nicht zu uns passt und uns fremd ist. Unser Wille ist anfangs in der Regel nicht an uns selbst orientiert bzw. nicht an unseren Bedürfnissen. Zumal in unserer Zeit viele gesellschaftlichen Kräfte darum kämpfen, unseren Willen in ihrem Sinne zu beeinflussen Werbung und Wirtschaft, Unterhaltung und Medien usw. reden uns ständig ein, dass wir dieses und jenes wollen sollen. Kein Wunder, dass wir aufpassen müssen, dass unser Wille nicht zum Spielball externer Einflußfaktoren wird. Dies ist auch ein Grund für die Formulierung des „wirklich-wirklich-Wollens“. Wir müssen mehrfach hinterfragen, ob dieses oder jenes jetzt das ist, was wir „wirklich, wirklich wollen“. Und wenn nicht, uns erneut auf die Suche machen. Man kann diese Vorgehensweise vergleichen mit den Bemühungen eines Schriftstellers, der seinen Text immer wieder umschreibt, bis er das ausdrückt, was er wirklich sagen will. So müssen wir uns immer wieder auf die Suche machen, bis wir identfiziert haben, was wir „wirklich, wirklich wollen“.

III Wie hilft man Menschen zu tun, „was sie wirklich, wirklich wollen

Auf dem Hintergrund der in Teil I und II beschriebenen Annahmen und Voraussetzungen sowie des Menschenbildes der „Neuen Arbeit“, leiten wir eine Vorgehensweise ab, die aus folgenden Elementen bzw. Schritten besteht:
• Beratung
• Möglichkeiten vorstellen
• Experimentieren

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die „Neue Arbeit“ also nicht nur auf Beratung setzt, sondern der Praxis ebensoviel Platz und Zeit einräumt, wenn nicht mehr. Dies ist bereits ein erster bedeutender Unterschied zu sehr vielen anderen Coaching- und Therapieformen, die ausschließlich auf das Gespräch setzen.
Aus diesem Grund soll es „Zentren für Neue Arbeit“ geben, in denen diese Vorgehensweise praktiziert und institutionalisiert werden kann.
Nachfolgend nun einige Erläuterungen zu den drei genannten Elementen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen.

Beratung

Die „Neue Arbeit“ stellt an die Beratung (und somit an den Berater) besondere Herausforderungen. Ist doch ihr hohes Ziel, dem Menschen mehr Lebendigkeit und zur Berufung zu verhelfen, was einer „Umkehr“ des bisherigen Lebens gleichkommt.
Das Beratungsverständnis und der Ernst sowie die Notwendigkeit der Beratung ergibt sich aus dem Menschenbild, das wir auf den vorausgegangenen Seiten dargestellt haben. Insbesondere in seinem Buch im Kapitel über die „Selbstunwissenheit“ führt Bergmann aus, dass der Mensch den Menschen benötigt, um sich selbst zu erkennen, um zu sich selbst zu kommen, um aus seiner Isolation, seiner Begrenztheit und seiner bisherigen Verfassung herauszukommen. Beratung ist hier keine Frage von Dienstleistung oder Experten-Klient-Verhältnis, sondern die einer zwischenmenschlichen Beziehung, bei der der Berater über ein hohes Maß an Menschenkenntnis verfügen muss, um dem jeweiligen Gegenüber gerecht zu werden. Angesichts dessen, dass Menschen, die zu uns kommen, unzufrieden sind mit ihrer bisherigen Arbeit, anders arbeiten wollen, bestenfalls wissen, was sie nicht (mehr) wollen, aber nicht wissen, was sie wirklich wollen, sich selbst zu wenig kennen, oft das Gefühl haben, mit ihrem Problem alleine zu sein, dass ihre Wünsche wie ihre Fähigkeit zu wünschen fragil und nicht stark ausgeprägt sind, braucht die Beratung als erstes Zeit. Nicht eine von vorneherein zum Beispiel durch die Krankenkasse limitierte Anzahl an Stunden bestimmt über deren Dauer, sondern umgekehrt, diese richtet sich nach der Zeit, die für die Beratung benötigt wird.

Dann müssen wir als Berater mit dem Gast selbst in Beziehung kommen, denn unser Anliegen ist es ja, seine „Armut der Begierde“, die „Selbstunkenntnis“ und ggfs. seine mangelnde Lebendigkeit zu überwinden. Das bedeutet, die Beziehung zwischen Berater und Gast ist geprägt von Wohlwollen und Sympathie, Wärme und Zuwendung, Aufmerksamkeit und Fürsorge, Respekt und Anerkennung. Sie stellen die zwischenmenschliche Grundlage dar, ohne die eine Beratung in unserem Sinne von vorneherein zum Scheitern verurteilt wäre.
Desweiteren braucht es den wohlwollenden Blick für die Möglichkeit, also die Berufung des Gastes, die seltene Kunst des Zuhörens, die bekanntlich die „Seele des Gesprächs“ ist sowie die Fähigkeit, den Tonfall des anderen zu treffen bzw. an die Sprache anzuschließen, für die er zugänglich ist. Herkömmliches Coaching und Therapie agieren aus falsch verstandener Professionalität oft mit Distanz, Kühle, Unbeteiligtheit, Unnahbarkeit und „Objektivität“. So erreichen sie nie den Menschen selbst. Aber das ist auch nicht ihr Anliegen. Ihr Anliegen ist es, den Menschen zur „Normalität“ zurück zu bringen; ihn dahin zu bringen, dass er wieder „funktioniert“. Und dafür ist es nicht nötig, sich mit ihm selbst zu beschäftigen.
Der Berater muss sich mit der „Neuen Arbeit im Ganzen auskennen und diese dem Gast anschaulich bei Bedarf darstellen können. Denn die „Berufung“ ist eingebettet oder ist Teil eines Gesamtkonzepts und nur in diesem Zusammenhang verständlich und nachvollziehbar. Damit meine ich einerseits das Menschenbild der „Neuen Arbeit“ und andererseits deren unterschiedliche Formen von Arbeit, der da sind: High-Tech-Self-Providing, Community Production und Teilzeitjob.
Die Berufung spielt bei Bergmann eine besondere Rolle – siehe hier unter anderem Seite 372 unten und Seite 381 unten in seinem Buch – zitieren. Er lässt aber auch keinen Zweifel daran, wie schwer es häufig sein kann, Menschen dazu zu verhelfen. Daher ist es für den Berater unabdingbar, das, was Berufung ist, auf vielfältige Weise zu erläutern, auch in dem man sie immer wieder im Gegensatz zum Job bzw. zur Lohnarbeit darstellt. Darüber hinaus sollte der Berater in der Lage sein, die Frage nach der Berufung auf vielfältige Weise und immer wieder neu stellen zu können bis der Gast „angebissen“ hat.

Möglichkeiten vorstellen im „Raum der Möglichkeiten“

Die Armut der Begierde und die Selbstunkenntnis werden unserer Erfahrung nach nicht durch Introspektion, sondern durch die Begegnung mit der Welt überwunden. So wie der Ratsuchende den Anderen, also den Berater, benötigt, um sich im Gespräch klarer über sich selbst zu werden, so benötigt er genauso „die Welt“, um Orientierung, um sich selbst und schließlich um seine Berufung zu finden. Aus diesem Grund erklärt sich die Bedeutung dessen, was wir „Möglichkeiten vorstellen“ nennen. Ganz so wie Heranwachsende eine anregende Umwelt benötigen, um sich bzw. ihre Anlagen zu entwickeln und ihre Interessen zu erkunden, so brauchen viele Erwachsene später das auch, insbesondere wenn es ihnen an beruflicher Orientierung fehlt, wenn sie resigniert und gleichgültig geworden sind, wenn sie sich selbst durch jahrelange monotone Jobarbeit aus dem Auge verloren haben. Anders formuliert: weil viele Menschen aus Hoffnungslosigkeit, Desinteresse, Entmutigung, Langeweile, Routine keine Perspektive, d.h. keine Möglichkeiten sehen („es gibt alles schon“, „es gibt nichts mehr zu tun“ oder „für mich gibt es keinen Platz“), braucht es konkrete Gegenpositionen. „Neue Arbeit“ bietet einen ganz anderen Blick auf die Welt und das Leben: nämlich, dass sie voller Möglichkeiten sind, voller Entwicklungschancen, voller noch nicht realisierter Ideen, voller möglicher Anfänge. In Wirklichkeit gibt es keinen Mangel an Möglichkeiten, sondern einen Überfluß, so dass für jeden etwas dabei ist.

Der Ablauf ist im Prinzip von Gast zu Gast gleich; allerdings unterscheidet er sich natürlich in den Möglichkeiten, die vorgestellt werden, da jeder Gast einzigartig ist. In einem ersten Schritt werden noch allgemein und unspezifisch Möglichkeiten vorgestellt, diese werden dann aber im Laufe der Orientierung immer spezifischer. Wichtig dabei ist, dass die „Vorstellung der Möglichkeiten“ nicht nur „theoretisch“ im Gespräch oder durch Informationen erfolgt, sondern ganz konkret und praktisch. Was auch immer als Möglichkeit in Frage kommt, es muss „sichtbar“, es muss „real“ und „zum Anfassen sein“. Die Möglichkeit muss so aufbereitet sein, dass sich der Gast vorstellen kann, diese zu ergreifen. Deshalb stellt sich Bergmann eine Infrastruktur vor, in der das umsetzbar ist – „den Raum der Möglichkeiten“. Beispiele hierzu gibt Frithjof Bergmann in seinem Buch.
• Massenproduktion und Massenkonsum belasten erheblich die Umwelt; jede ökologische Verbesserung eines Produkts wird neutralisiert durch dessen Mehrproduktion, die das Wirtschaftswachstum fordert; die Globalisierung der Ökonomie will den westlichen materiellen Lebensstil über die Erde verbreiten, was deren Belastung weit übersteigt. Community Production hingegen zeichnet sich durch Begrenzung der unterschiedlichsten Art aus, die der Umwelt zugute kommt: sie ersetzt die industrielle Massenproduktion durch Einzelproduktion; Massenkonsum weicht individueller Bedarfsdeckung; Wirtschaftswachstum ist für Community Production ein Fremdwort: nicht der absurd künstlich aufgebauschte materielle Lebensstil des Westens, nicht sein Konsumrausch wird in die Welt getragen, sondern eine individuell gestaltbare Grundversorgung. Da Community Production lokale Ökonomie ist, wird einerseits der immense globale Güterverkehr entschieden reduziert, der wesentlich zur Umweltverschmutzung beiträgt. Andererseits hebt sie die jetzt vorherrschende Trennung von Leben und Arbeiten auf, die sich mit dem Wirtschafts- und Jobsystem verbreitete. Dadurch wird das unselige, massenhafte Pendeln von und zur Arbeit weltweit reduziert, das ebenfalls weniger Umweltverschmutzung bedeutet. Davon abgesehen werden abertausende Staus vermieden, in denen wir unsere Zeit und Nerven sinnlos vergeuden.

Experimentieren

Das Experimentieren ergänzt die „Beratung“ und den „Raum der Möglichkeiten“. Alle drei Elemente stehen in wechselseitiger Beziehung. Was sich in der „Beratung“ und im „Raum der Möglichkeiten“ als eventuelle Tätigkeit für den Gast ergibt, wird im „Experimentieren“ ausprobiert, überprüft, so dass der Gast erfahren kann, ob er auf dem richtigen Weg ist. Diese Erfahrungen fließen wieder zurück in die Beratung.
Menschen entdecken in der Regel nicht plötzlich und auf einmal, was sie wirklich, wirklich wollen. Vielmehr ist es häufig ein langwieriger Prozess mit Rückschlägen, Versuch und Irrtum, Neuorientierung. Erst allmählich schält sich eine Berufung heraus. Daher die Notwendigkeit des „Experimentierens“. Und zwar jeder Gast in seiner Weise – sei es in Form von Praktika, Projekten, Exkursionen, Mitarbeit in einem existierenden Programm, das einen interessiert usw.
Wie das „Vorstellen von Möglichkeiten“, so ist das „Experimentieren“ eine Begegnung mit der Welt, ein sich Finden in der Welt. Auf die Arbeit bezogen: man erfährt auf praktische und konkrete Weise, welche Tätigkeit zu einem passt.
Unser herrschendes Arbeitssystem (Jobsystem) geht davon aus, dass man bei seinem Beruf bleibt, den man erlernt hat; die hochgradige Arbeitsteilung macht eine prinzipielle berufliche Veränderung schwierig. Freilich wechseln viele die Stelle im Laufe der Zeit, aber nur wenige den Beruf. Aus vielen Seminaren mit Menschen, die mit ihrem Job unzufrieden sind, wissen wir, wie schwierig es ist und wie schwierig es ihnen gemacht wird, sich tatsächlich neu zu orientieren, insbesondere, wenn man mehr will als einen Job.

Gesetzt den Fall, Community Production würde sich durchsetzen und die Weltbevölkerung könnte sich durch sie materiell ausreichend versorgen; angenommen, eine individuell bestimmbare Selbstversorgung ließe sich bei begrenztem Aufwand bewerkstelligen: Die Ökonomie wäre nicht mehr länger Selbstzweck, sondern Mittel für einen Zweck. Konkret: ihre Funktion würde darin bestehen, die notwendige Bedingung für „freie Arbeit“ zu schaffen.