Pathologie des Job-Systems

Die Krise der alten Arbeit

Warum braucht es eine Alternative zum Jobsystem? Warum braucht es „Neue Arbeit“? Eine wichtige Antwort auf diese Frage ist: weil die „alte Arbeit“ in der Krise steckt; weil sie immer mehr von Mängeln und Missständen gekennzeichnet ist; weil sie an vielen „Krankheiten“ leidet und den Menschen ihrerseits krank macht. Daher nennt Frithjof Bergmann seine Kritik „eine Pathologie des Jobsystems“.

Welches sind die „Krankheiten“ oder „Mängel und Missstände“?

Beschäftigungslosigkeit

Der offensichtlichste Mangel ist die Beschäftigungslosigkeit. Jeden kann es treffen – Männer wie Frauen, Akademiker wie Handwerker, alt wie jung. Beschäftigungs- losigkeit ist nicht nur ein lokales, regionales, nationales, sondern vor allem ein globales Phänomen. Angesichts des globalen Bevölkerungswachstums und der weltweiten Migration vom Land in die Stadt nimmt das Heer der Jobsuchenden unaufhörlich zu. Arbeitskräfte gibt es wie Sand am Meer.
Gleichzeitig gerät das Jobsystem unter Druck, denn die Automatisierung erhält durch die Digitalisierung enen gewaltigen Schub: mehr und mehr menschliche Arbeitskraft kann durch technologische Arbeitskraft (Maschinen, Roboter, Automaten, 3-D-Drucker, usw.) ersetzt werden. Dadurch verschärft sich der chronische Mangel an Jobs.
Die Beschäftigungslosigkeit wird häufig als der einzige Mangel des Jobsystems dargestellt, ist es jedoch beileibe nicht. Er ist nichts anderes als die Spitze des Eisbergs, dessen Großteil verborgen unter der Wasseroberfläche liegt.

Prekäre Beschäftigungsverhältnisse

Als nächster gravierender Missstand sind daher die prekären Beschäftigungs- verhältnisse zu nennen. Dabei handelt es sich um schlecht bezahlte, leicht kündbare und häufig zeitlich befristete Jobs. Zu ihnen gehören auch, Leih- und Zeitarbeit, geringfügige Beschäftigung und im weiteren Sinne auch Existenzgründungen aus Not oder Verlegenheit, von denen man mehr schlecht als recht leben kann.
Zu den prekären Beschäftigungsverhältnissen zählen auch jene scheinbar sicheren, unbefristeten Vollzeitjobs, die von Beschäftigungslosigkeit bedroht sind – sei es durch Globalisierung der Arbeit, durch Rationalisierung der Arbeit, durch Umstrukturierung der Arbeit, die häufig zu Personalreduzierung und zu Outsourcing führen – für Mitarbeiter bedeutet das: ständige Unruhe und Unsicherheit, ob man seinen Job behält.
Ganz aktuell zeigt sich das bei der Diskussion um Arbeit 4.0, also dem Thema „Digitalisierung der Arbeitswelt“, bei der man davon ausgeht, dass künftig unendlich mehr Arbeitsplätze als bisher automatisiert werden können – Frithjof Bergmann hat diesen Trend übrigens schon vor mehr als 30 Jahren vorausgesagt.

Mehrarbeit

Arbeitnehmer machen immer mehr Überstunden. Alleine in Deutschland geht die Zahl der Überstunden mittlerweile in die Milliarden. Handys und Laptops, die man mit nach Hause nimmt und die man überall dabei hat, führen dazu, dass man ständig erreichbar ist. Sie führen auch dazu, dass die Übergänge zwischen Arbeiten und Privatleben fließend werden, d.h. nicht mehr so klar abgegrenzt sind wie früher.

Frithjof Bergmann zur Nicht Krise des Systems

Frithjof Bergmann geht davon aus das das Jobsystem nicht in einer Krise ist, sondern das wir am Anfang einer neuen Epoche stehen und das wir ein radikal neues Programm brauchen um Arbeit besser zu organisieren.

Leistungsdruck

Der Begriff ist ganz präzise zu nehmen: wir sprechen von Leistungsdruck und nicht von Arbeitsdruck (so wie wir mittlerweile keine Arbeitsgesellschaft mehr sind, sondern eine Leistungsgesellschaft). Wir gehen keiner Arbeit mehr nach, sondern erbringen eine Leistung. Wie kommt das? Arbeit verwandelt sich in Leistung, wenn es nur noch darum geht, soviel Arbeit wie möglich in einer bestimmten Zeiteinheit ( zum Beispiel acht Stunden am Tag) zu erbringen. Leistung ist als physikalische Größe definiert – Arbeit:Zeit. Dieses Verhältnis wird ständig optimiert durch Mehrarbeit, Arbeitsverdichtung und Beschleunigung der Arbeitsprozesse. Und je mehr es optimiert wird, desto mehr geraten wir unter Leistungsdruck. Man kann auch so sagen: Je mehr wir arbeiten müssen, desto mehr steht der Leistungsgedanke im Vordergrund. Desto mehr treten andere Aspekte der Arbeit in den Hintergrund.
Dieser Leistungsgedanke ist in der Arbeitswelt allgegenwärtig und ist nicht nur auf Menschen beschränkt. Bemühen wir extra ein schroffes Beispiel: In der Landwirtschaft müssen Kühe schon längst immer mehr Leistung bringen, d.h. immer mehr Milch geben. Eine Steigerung von mehreren hundert Prozent erfolgte.
Tier wie Mensch leiden unter dem Leistungsdruck.

Damit einher geht

Zeitdruck

: Je mehr Leistung in einer gegebenen Zeiteinheit erbracht werden muss, desto weniger Zeit hat man pro Aufgabe. Nehmen wir das Beispiel des Sozialarbeiters im Jugendamt: über die Jahre hat sich das so dort entwickelt, dass der Sozialarbeiter immer mehr Fälle pro Tag abarbeiten soll, so dass er kaum noch dem Einzelfall gerecht wird.

Erfolgsdruck

Erfolg ist zu einer ganz entscheidenden Kategorie geworden: in Gesellschaft, in Schule, teilweise in Familie und am meisten im Arbeitsleben. Entscheidend ist der Erfolg. Das ist der Altar, dem die Menschen opfern und auf dem sie geopfert werden. Ein Problem des Erfolgs ist: Er macht nicht satt, sondern hungrig – hungrig nach mehr Erfolg. So werden Ziele, Planzahlen, Erwartungen und Effizienz ständig hochgeschraubt. Das führt zu Erfolgsdruck – und übrigens zu Ohnmacht, denn Erfolg hängt nicht nur von der eigenen Anstrengung ab, sondern von vielen Faktoren auf die man keinen Einfluss hat.

Weitere Missstände im Jobsystem

• Keine Perspektive im Unternehmen
• inkompetente Vorgesetzte, die zu Demotivierung und innerer Kündigung bei Mitarbeitern führen (schlechter Führungsstil, mangelnde Kommunikation, kein Vertrauen)
• Mobbing
• Unternehmenskultur, die durch Skandale beschädigt ist ( nennen wir nur Unternehmen wie die Deutsche Bank, Bayer/Monsanto oder der vom Dieselgate erschütterte VW-Konzern)
• Routine. Einerseits erlaubt Routine, dass wir die Arbeit immer besser machen, dass sie uns nicht überfordert, dass wir sie eben „routiniert“ durchführen. Andererseits führt Routine zu Langeweile, mangelnder Herausforderung, Phantasie und Kreativität leiden. Wer täglich 8 Stunden wiederholende Tätigkeiten durchführt, der wird passiv.
• mangelnde Gestaltungsspielräume
• Brachliegendes Potenzial, das man realisieren will und das vom Unternehmen nicht abgerufen wird
• man ist eingespannt in „Arbeiten“ und „Konsumieren“, ein Kreislauf, der sinnentleert ist.
• Andere Lebensinhalte lassen sich nicht ausreichend neben dem Job integrieren und führt so zu Konflikten bei der Vereinbarung von Arbeit und Leben – zum Beispiel bei der:
– Vereinbarkeit von Familie und Beruf
– Vereinbarkeit von Beruf und Partnerschaft
– Vereinbarkeit von Beruf und Pflege von Angehörigen
– Vereinbarkeit von Beruf und Ehrenamtlichem Engagement
• Viele Menschen müssen Arbeit tun, die fragwürdig, wenn nicht sinnlos ist und die keinen wirklichen Mehrwert bringt
• Pendelei: Die Zahl der Pendler erhöht sich ständig. Von einer Stadt in die andere. Vom Land in die Stadt. Von Ost nach West.
Pendeln kostet Zeit, Nerven und Geld.

Das Job-System verspricht viel und hält wenig:

• Es verspricht berufliche Identität und Anerkennung, doch machen die „Krankheiten des Jobsystems“ diese unmöglich. Vielmehr sind Unsicherheit, Enttäuschung, innere Kündigung, Erfahrung der Austauschbarkeit und Angst um den Arbeitsplatz an der Tagesordnung. Die berufliche Identität ist in vielen Fällen bereits erodiert.
• Es verspricht Vollbeschäftigung, kennzeichnet sich aber durch die Spaltung derer, die einen Job haben und die keinen haben; die einen sicheren und gutbezahlten Job haben und die sich mit einem prekären Beschäftigungsverhältnis zufrieden geben müssen.
• Es verspricht allgemeinen Wohlstand, fördert aber immer mehr die Kluft zwischen arm und reich (reicher Norden – armer Süden. Reiche Manager / moderat verdienende Arbeitnehmer. Menschen, die Kapital besitzen und es vermehren, während das Einkommen der Mittellosen stagniert. Eine besondere Form der Verarmung entsteht durch die millionenfache Migration vom Land in die Stadt. Auf dem Land hatte man als Bauer durch Selbstversorgung ein bescheidenes Auskommen, während man jetzt als Wanderarbeiter ein prekäres Dasein fristet oder in die Slums dieser Welt geraten ist, wo man sich mehr schlecht als recht durchschlägt).

Das Jobsystem verstrickt sich in Widersprüche:

• Einerseits arbeiten die, die einen Job haben, immer mehr, andererseits haben Beschäftigungslose nichts zu tun.
• Einerseits liegt sinnvolle Arbeit, die zu tun wäre, „brach“, andererseits liegen Menschen „brach“, die arbeiten wollen. Arbeit und Mensch kommen nicht zusammen.
• Einerseits gibt es offene Stellen, die nicht besetzt werden können, andererseits gibt es arbeitslose Menschen, die eine Arbeit suchen und keine finden.
• Einerseits wird viel „unnötige“, „sinnlose“ und „überflüssige“ Arbeit gemacht. Viele Jobs sind menschenunwürdig und ihr einziger Mehrwert besteht darin, Menschen zu beschäftigen, damit sie irgendwas zu tun haben und den Profit des Unternehmens zu steigern. Andererseits wartet viel sinnvolle, gesellschaftlich notwendige Arbeit darauf, getan zu werden.
• Einerseits herrscht im Jobsystem immer ein Mangel an Jobs, so dass es immer beschäftigungslose oder unterbeschäftigte Menschen gibt, andererseits ist das Jobsystem nicht in der Lage, die unendliche Fülle an Arbeit, die es an und für sich gibt, zu organisieren. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen: Jobs sind knapp, Arbeit hingegen nicht.

Ziehen wir ein

Fazit:

Das Jobsystem wird von „Krankheiten“ heimgesucht, an denen viele Menschen leiden.

Frithjof Bergmann nennt den Job selbst eine „milde Krankheit“, d.h. er bringt uns nicht um, macht uns aber stetig zu schaffen, macht uns unzufrieden, laugt uns aus, nimmt uns Kraft erschöpft und deprimiert uns. Auf Dauer deformiert und verkrüppelt uns der Job, so dass von uns als Mensch nicht mehr viel übrig bleibt, wenn wir in Rente gehen.

Gleich der Anti-Raucher-Kampagne „Rauchen gefährdet ihre Gesundheit“ müsste man eine Kampagne starten „Der Job gefährdet ihre Gesundheit“.

Der Mensch hat sich dem Job-System untergeordnet. Er dient ihm als Mittel für dessen Zwecke. Das Job-System interessiert sich nicht für ihn als Mensch, für seine wirklichen, tieferliegenden, ureigensten Wünsche, Bedürfnisse, Begabungen, Potenziale. Ihm ist nicht daran gelegen, dass der Mensch sich durch Arbeit zu einem selbstbewussten, kräftigeren, unabhängigeren oder vollkommeneren Wesen entwickelt.

Der Mensch hat sich in vielfältiger Weise vom Job-System abhängig gemacht. Weil dem so ist und wir kein alternatives Arbeitssystem haben, brauchen wir auf Teufel komm raus Jobs bzw. Beschäftigungsmöglichkeiten. Angesichts der Tatsache, dass Automatisierung, Digitalisierung bzw. Rationalisierung der Arbeit ständig Jobs zunichte machen, brauchen wir unbedingt Wirtschaftswachstum, um den Verlust an Jobs wett zu machen. Wir sind also zwingend auf Wachstum angewiesen. sonst schnellt die Zahl der Arbeitslosen sofort in die Höhe und führt zu Massen-beschäftigungslosigkeit.

Zu guter letzt muss als Frage formuliert werden: Welchem Zweck dient das herrschende Jobsystem eigentlich? Dient es nicht eigentlich mehr als allem anderen
• der gesellschaftlichen Spaltung zwischen arm und reich, zwischen Jobinhabern und Beschäftigungslosen?
• der Bereicherung weniger auf Kosten vieler?
• der Disziplinierung, der Kontrolle, der Unterordnung, der Abhängigkeit und Gefügig-Machung der Menschen?

Gesetzt den Fall, Community Production würde sich durchsetzen und die Weltbevölkerung könnte sich durch sie materiell ausreichend versorgen; angenommen, eine individuell bestimmbare Selbstversorgung ließe sich bei begrenztem Aufwand bewerkstelligen: Die Ökonomie wäre nicht mehr länger Selbstzweck, sondern Mittel für einen Zweck. Konkret: ihre Funktion würde darin bestehen, die notwendige Bedingung für „freie Arbeit“ zu schaffen.